Durch die Staatsgrundgesetze von 1867 waren alle BürgerInnen der Habsburgermonarchie gesetzlich gleichgestellt und konnten auch ihren Wohnsitz frei wählen. Daher nahm in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die jüdische Bevölkerung von Innsbruck zu. In der Hoffnung auf sozialen Aufstieg ließen sich hier Handwerker und Kaufleute aus Böhmen, Mähren, der Slowakei und Galizien nieder. Die jüdischen BürgerInnen engagierten sich in zahlreichen Vereinen und belebten die städtische Wirtschaft.
Die ZeitzeugInnen berichten über ihre Kindheit und Jugend in Innsbruck. Einige von ihnen, deren Großeltern und Eltern durch Fleiß und Ausdauer zu Wohlstand gekommen sind, leben in schönen Villen im Saggen, dem Stadtteil von Innsbruck, wo damals wie heute hauptsächlich die wohlhabenden BürgerInnen wohnen. Manche leben in großen Wohnungen im Stadtzentrum, andere im Großfamilienverband in klassischen Arbeitervierteln. Die jüdischen Familien sind assimiliert, das heißt, ihr Alltagsleben, ihre Kleidung, ihre Sprache und ihre Kultur unterscheiden sich kaum von den Gepflogenheiten der Mehrheitsgesellschaft. Die Familie wird zu einem Eckpfeiler eines weltlichen Judentums in Innsbruck. Gemeinsames Musizieren und die Pflege eines bürgerlichen Musikkanons stärken den Zusammenhalt der Familie und das Gefühl der Zugehörigkeit zur bürgerlich-städtischen Gesellschaft der Landeshauptstadt.
Die geringe Zahl jüdischer Männer und wirtschaftliche Probleme in den Familien nach dem Ersten Weltkrieg bewegen junge Innsbrucker Jüdinnen, nach Wien zu ziehen, um dort Arbeit oder einen Ehemann zu finden. Der Kontakt zur Herkunftsfamilie in Tirol wird aber weiterhin gepflegt, ihre Kinder verbringen die Ferien bei den Verwandten in der ehemaligen Heimatstadt.